Wie ich begann, mich in dieser Welt einzu­richten

„Bääh!!!“

Das wird wohl meine erste Äußerung in dieser mir so unvertrauten Welt gewesen sein. Wahrscheinlich herbeigeführt durch einen Klaps auf meinem Po, ausgeführt von einer Hebamme, an der Seite meiner Mutter. Eine fachkundige Dame, welche, mit dieser so frevelhaft anmutenden Tat, schon damals meinen Hang zum Protest provozierte.

Jedoch kann ich mich, wie alle anderen Erdenbürger, die in vergangenen Tagen dabei waren, es heute zu tun gedenken, oder dereinst noch tun werden, nämlich diese Erde zu betreten, daran überhaupt nicht erinnern.

Ich wurde in eine Welt hinein geboren, in der die Menschen in Deutschland, aber auch an vielen anderen Orten dieser Erdkugel, gerade dabei waren, die schlimmsten Folgen des vergangenen Krieges zu überwinden. Es in dieser Republik langsam wieder aufwärts ging. Die regierende Partei richtete ihre Politik nach dem Notwendigen aus und machte ihren Job recht ordentlich. Die Opposition war, wie jede nicht an der Macht befindlichen Partei, unzufrieden mit dem Tun der Anderen, musste aber noch lange Jahre warten, bis auch sie dieses Land federführend gestalten durfte. Sie wird dann ebenfalls, mit ihrer anderen, neuen Politik, Deutschland auf bester Weise, zum Missfallen der dann gerade Abgewählten, verändern und voranbringen.

Von alledem hatte ich an diesem Sonntag dem 24. Juni 1956, um 8:15 Uhr natürlich keine Ahnung gehabt.

Durch den, nicht in meiner Erinnerung verankerten, wohl aber obligatorischen Klaps, wurden jene hilfreichen Geister in mir geweckt, die mir das Überleben in dieser, noch zu entdeckenden Welt, ermöglichen sollten. Meine mich umhegende Welt war zunächst einmal eine Zweizimmer-Mansarde mit einer großen Wohnküche, unter dem Dach eines Hauses in der Tiroler Straße in Frankfurt am Main.

Neben mir und meinen damals schon geborenen Brüdern Walter und Josef, bewohnten meine Eltern und meine Oma dieses äußerst enge Domizil. Es sollte noch enger werden. Denn es wurden noch mein Brüderchen Max und mein Schwesterchen Gundel in unsere Familie hinein geboren. So dass, als langsam meine bewussten Erinnerungen einsetzten, meine Familie komplett war.

Als neuntes Mitglied der Familie geistert in schattenhafter Erinnerung noch eine Katze durch die Wohnung. Diese hatte wohl die Eigenschaft über die Dächer von Sachsenhausen zu streunen und den Weg nach Hause nur schwer wiederfinden zu können. Manches Mal musste sie mit großer Geduld und einen noch viel größeren Brocken Fleisch vom Dach zurück in die familiäre Bleibe gelockt werden. Ein Tun, das eben jene schattenhaften Bilder an diese Katze prägte. Denn noch bevor sich mein geistiges Ich vollends entwickelt hatte, war der weiß-schwarz-braune Stubentiger für immer verschollen.

Aber all jenes lag noch in weiter Ferne, als ich meinen ersten Schrei von mir gab. Jetzt wurde ich erst einmal in das für mich vorgesehene Bettchen gebettet und fristete, liebevoll umsorgt, meine ersten Tage damit, zu Essen, zu Schlafen und einfach nur größer zu werden.

So dämmerte ich die ersten Jahre meines Daseins dahin. Dem Zeitpunkt meiner ersten Erinnerungen entgegen, mit denen ich endgültig zum Leben erwachten sollte.

Es waren recht ärmlichen Verhältnissen, in denen ich hinein geboren wurde. Mein Vater war Metzgermeister und hatte eine Anstellung bei einer der Sachsenhäuser Metzgereien. Er verdiente ein mäßiges Gehalt, welches dadurch aufgebessert wurde, dass er die allabendlichen angeschnittenen Wurst- und Fleischreste, aus der Theke der Metzgerei, mit nach Hause nehmen durfte. Das war ausreichend, eine achtköpfige Familie, über dem damals üblichen Maße, mit dieser tierischen Nahrung zu versorgen.

Viel kann ich über unsere viel zu kleinen Wohnung in Frankfurt Sachsenhausen nicht sagen. Es war, wie schon beschrieben, eine Dachwohnung mit zwei Zimmern. Das eine Zimmer war das elterliche Schlafzimmer, in dem auch mein kleiner Bruder Max und meine Schwester untergebracht waren. Der andere Raum war als Wohnzimmer gedacht, der aber auch als Schlafraum für meine Oma, meinen beiden älteren Brüdern, sowie mir, diente.

Es gab noch eine Küche, die mir recht groß erschien, was wohl daran lag, dass ich noch so klein war. Sie war ein Ort der Geborgenheit, aber auch ein Ort erschreckender Erlebnisse. Zumindest, wenn man die Welt noch aus den Augen eines dreijährigen betrachten musste.

So erschreckte es mich, als einmal aus der Wasserleitung der Küche rostig braunes Wasser geflossen kam. Dabei knatterte die Leitung mit einem solchen Radau, dass der einzig sichere Ort, der mir Geborgenheit versprach, der Schoß meiner Mutter zu sein schien. Aber Papa hatte das Problem bald im Griff. Das Wasser floss wieder klar und die Leitung wurde wieder ruhig. So konnte man sich in den gewohnten vier Wänden wieder vollkommen sicher fühlen. Eine weitere Erinnerung an dieser Küche ist jene, als mein Vater die Wand zur Speisekammer einriss, um mehr Platz in der Küche zu haben. Diese, unter dem circa einen Meter hohen Kniestock angelegte Kammer, diente als Lagerraum für allerlei Gerümpel. Oft hatten wir darin Verstecken gespielt. Oder sind als Forscher in die düstere Kammer gezogen, um die dort abgelegten, uns völlig unbekannten Gegenstände zu untersuchen. Einzig, um herauszufinden welche Bedeutung sie nun haben mögen. Die Wände der Kammer bestanden aus, auf Holzpfosten genagelte, dünne, schön bemusterte Resopalplatten, die beim Abriss in sonderbaren Formen zersprangen. Der Niederriss dieser Wand wird mir wohl deshalb so in Erinnerung geblieben sein, da ich hier zum ersten Mal in meiner heilen kleinen Welt, etwas mit Gewalt zerstörtes sah. Aber die handwerklichen Fähigkeiten meiner Mutter, ja, die meiner Mutter, schafften bald aus diesem Chaos wieder eine wohlgestaltete Welt.

Im Wohnzimmer unserer Mansarde war eine Daube. Diese war deshalb so interessant, da sie uns mit der restlichen Welt verband. Öffnete man sie, konnte man in die Ferne sehen. In nicht allzu weiter Entfernung erkannte man die Eisenbahnstrecke, die durch Sachsenhausen führte. Meines Erachtens nach, wohl zwischen Hauptbahnhof und Südbahnhof verlief.

Dort herrschte immer ein reger Zugverkehr. Und es war für uns ein Vergnügen die Dampflokomotiven vorbei rauschen zu sehen. Immer eine mächtige Rauchwolke hinter sich herziehend. Imposant waren für uns die angehängten Güterwagen. Unzählige. Hauptsächlich waren es Kohletender. Aber in den offenen und geschlossenen Güterwagen wurde alles transportiert, was es in der jungen Republik wert war, befördert zu werden. Alles wurde an unseren Augen vorbeigeführt und bestaunt.

Aber so einfach konnte man dieses Fenster zur Welt nicht erreichen. Direkt unter dem Ausblick stand eine schwere, mit weinrotem Stoff bezogene Couch. Diese musste zunächst erklettert werden. Aber unsere kurzen Körper konnten die Aussicht noch immer nicht erreichen. So mussten wir auch den breiten Rücken dieser Couch erklimmen. Nun konnten wir uns am Fensterrand festhaltend, das Fenster öffnen und hinaus in die Welt sehen. Nur mein kleiner Bruder Max stand auf verlorenen Posten. Auch wollte die Welt betrachten. Ihn hochzuheben war uns nicht möglich. Standen wir doch selber so unsicher auf der Lehne der Couch. So stand er neben uns und wenn er sich auch stets bemühte, uns zu versichern, dass er auch etwas sehen konnte, war klar, dass seine Beine noch immer zu kurz waren um ihn in die Welt hinaus schauen zu lassen.

Dieser Zugang zur Welt führte uns eines Tages dazu, der Welt zu bekunden, dass wir auch auf ihr weilten. Ich werde wohl wieder einmal mit meinem Bruder Josef am Fenster gestanden haben, als einer von uns beiden auf die Idee kann, ein Spielzeug auf das Dach abzulegen. Dieses zog natürlich sogleich dem Weg, dem ihn die Schwerkraft vorgab. Es purzelte über das Dach hinunter übersprang im weiten Schwung die Dachrinne und verschwand, einen großen Bogen ziehend, aus unseren Augen. Das war lustig. Also suchten wir nach weiterem Material, in Form von Bauklötzchen, Stofftierchen und anderen Utensilien, welches nach und nach das Dach hinunter ging. Unsere Begeisterung wurde immer größer. Uns gingen die Teile nicht aus. Doch plötzlich stand Mutti in der Tür. Sie war in besondere Weise ärgerlich:

„Habt ihr Dinge zum Fenster hinausgeschmissen? Unten steht die Vermieterin und schimpft über das was da herunterkommt. Kann man euch denn nicht mal einen Augenblick allein lassen?“.

Nun offensichtlich konnte man uns nicht einen Augenblick alleine lassen. Betroffen standen wir da. Eine Erklärung, wie viel Spaß das alles gemacht hatte, verfing überhaupt nicht. Unser großer Bruder Walter wurde losgeschickt, das geschundene Spielzeug aus dem fremden Garten zu bergen. Es stand außerhalb jeder Frage, dass es allerschwersten Ärger geben würde, sollte noch ein, noch so kleines Teil dem Zug der Schwerkraft folgend, im verbotenen Garten landen. Schade, denn es hatte wirklich Spaß gemacht.

Wie schon erzählt, lebte noch eine Katze mit uns in der Wohnung, die gerne über den Dächern streunte. Irgendwann war diese Katze aber ganz weg. Wohin? Niemand weiß es.

Aber Vater brachte bald Ersatz. Als er eines Tages von der Arbeit nach Hause kam rief er uns herbei, griff in seine Brusttasche und holte einen winzigen Knäul munteren Lebens aus seiner Kleidung. Eine kleine, schwarzweiße Katze. Sie wurde zum neuen Familienmitglied, mit dem ich groß werden sollte.

Zu unserer Wohnung gehörte auch ein Keller. Der Abgang zum Keller war durch eine große weiße Tür versperrt, die gegenüber der Hauseingangstür, neben dem Treppenaufgang lag. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen, hatte diese Tür für mich etwas Unheimliches. Sie machte mir Angst. Ich habe niemals die Schwelle dieser Tür überschritten. Auch nicht, wenn unsere Mutter, bevor sie mit uns spazieren gehen wollte, noch mal schnell in den Keller wollte um etwas zu erledigen.

Wir waren oft mit meiner Mutter oder meiner Oma unterwegs. Oft zum Luisa-Park. Dort gab es alles was ein Kinderherz begehrte. Ob riesige Rutschbahnen, Schaukeln, wippenden Reittieren, Klettergerüste oder Drehdinger, auf denen es mir immer schlecht wurde. Und natürlich viele fremde Kinder mit denen man hätte spielen können. Aber jeder blieb in der eigenen Gruppe seiner Spielkameraden.

Auch zum Einkaufen durften wir unsere Mutter oft begleiten. Dann sind wir die Tiroler Straße runter, über die Oppenheimer Landstraße, bis zur Mörfelder Landstraße gelaufen. Dort gab es die Geschäfte, die uns als Kunden erwarteten. Eingekauft wurde meistens beim Schmitt. Dieser führte vieles, in meinen Erinnerungen blieb aber vor allem die Kohlen. Diese lieferte er uns noch viele Jahre lang, auch nach Preungesheim wohin wir bald ziehen durften.

Aber das wichtigste beim Gang zu den Läden, war die Feuerwache an der Ecke der Landstraßen. Sie zu bestaunen war für uns Kinder das großartigste dieser Welt. Diese vielen roten Feuerwehrautos zu sehen, die in den oft offenen Hallen oder auf den Hof abgestellt waren, war unser größtes Vergnügen. Alles war da. Leiterwagen, Tankwagen, Gerätewagen und die kleinen Autos für den Brandmeister, wie wir damals annahmen. Und alle hatten ein, oder auch zwei bucklige Blaulichter auf dem Dach. Ab und zu konnte man auch das Getöse, der zu einen Einsatz fahrenden Löschzüge erleben. Das war ein Höllenlärm. Da wurde uns aber mächtig angst und bange.

Es war dennoch ein ruhiges unaufgeregtes Leben, das wir da in Sachsenhausen zu bewältigen hatten. Schwung kam erst ins Dasein hinein, nachdem wir nach Preungesheim umgezogen waren.

Ich kann mich an diesen Umzug sehr wohl noch erinnern. Unsere wenigen Möbel wurden von einem Möbelwagen abgeholt. Dann wurden wir warm eingepackt, und irgendwie war klar, dass wir jetzt diese vertraute Wohnung für immer verlassen würden. Das ich dies in irgendeiner Weise bedauerte, ist in keiner meiner Erinnerungen verankert. So zog ich ohne Wehmut einer neuen Heimat entgegen. Mein letzter Blick, fiel auf die große, weiße Kellertür, die mir auch dieses Mal wieder Angst machte.

Wie wir nach Preungesheim gekommen sind, weiß ich nicht genau. Ich erinnere mich an eine Taxifahrt, mein Bruder meint, wir wären mit der Straßenbahn gefahren. Jedenfalls sind wir am späten Nachmittag in Preungesheim angekommen. Etwas fremdelnd betraten wir unser neues Domizil. Es war dunkel und kalt, in dieser riesigen Erdgeschosswohnung. Die Rollläden waren an diesem Dezembertag, kurz vor Weihnachten, heruntergelassen. Hier und da leuchtete eine, in einer einfachen Fassung steckende Glühbirne von der Decke herab. Die Öfen in den Zimmern waren nicht angeheizt. Fünf Zimmer eine große Küche, ein Bad, ein WC und ein riesig langer Flur waren jetzt unser neues Heim.

Zudem gehörte noch: ein Balkon, ein Keller, ein Speicher unter dem Dach, sowie eine gemeinsame Waschküche, ein Fahrradkeller für alle Hausbewohner und ein Trockenraum, ebenfalls unter dem Dach unseres Wohnhauses. Diese Wohnung schien mir der reinste Luxus zu sein. Ich sollte bis zu meinen Zwanzigsten darinnen wohnen bleiben. Es ergaben sich viele Geschichten, die erzählt werden können. Aber dies tue ich ein anderes Mal.

 


Hintergrund der Geschichte: Autobiographisches Schreiben.


6 Seiten