Träume

Als die mit einem hübsch geblümten, hellen Sommerkleid bekleidete, rotschopfige Dame, das Café betrat, ahnte ich sofort, dass sie die Person war, mit der ich mich verabredet hatte. Es war die Art, mit der sie eintrat, sich umschaute und die wenigen anwesenden Gäste kurz musterte. Dann erblickte die Frau mich. Auch sie muss sich wohl sofort sicher gewesen sein, in meiner Person, den von ihr gesuchten Gast gefunden zu haben. Mit eleganten, schwungvollen Schritten strebte sie auf mich zu. Sie war kein Wesen puppenhafter Schönheit. Hatte aber etwas an sich, was mich sofort außerordentlich ansprach. Ich wusste nicht, was es war, fühlt mich jedoch vom ersten Augenblick von ihr angezogen.

„Stefan?“,

fragte sie kurz.

Ich sprang auf und warf dabei fast meinen Stuhl um. Mit einer linkischen Bewegung verhinderte ich dessen Sturz, bevor ich der Dame meine Hand reichte:

„Hallo! Resi nehme ich an?“

„Ja, hallo“

Sie ergriff meine Hand zu einem kurzen festen Händedruck. Anschließend setzte sie sich zu meiner Linken an den runden Cafétisch. Sie begann mich wortlos zu mustern.

Etwas eingeschüchtert von ihrer sonderbaren Attraktivität fuhr ich mir durch die Haare. Da ich danach immer noch nicht wusste, wohin mit den Händen, streifte ich diese über meine Oberschenkel. Ich schaute sie kaum an und als ich etwas sagen wollte, kam nur ein Räuspern heraus.

„Nervös?“, fragte sie mit einem verständnisvollen Lächeln.

„Das können Sie aber glauben. So ein Date habe ich noch nie ausgemacht. Und ich glaube, es wird auch das letzte Mal gewesen sein.“

„Ist es ihnen lieber dieses Treffen zu beenden? Habe ich Sie enttäuscht?“

„Nein! Nein! Keineswegs! Ich habe einfach keine Ahnung, was Sie jetzt von mir erwarten. Äh, ich meine, was ich jetzt tun soll. Es ist eben das erste Mal, dass ich mich auf diese Weise verabredet habe.“

„Aber andere Frauen haben Sie doch sicher schon getroffen?“

„Ja sicher. Aber…“

„Waren Sie denn da auch so nervös?“

„Nein sicher nicht. Meistens hat sich ein Gespräch einfach so ergeben.“

Nun öffnete sich ihr Lächeln merklich:

„Und über was haben sie sich unterhalten?“

Nach Worte ringend warf ich die Hände in die Luft, bevor ich eine Antwort herausbekam:

„Nun ja, über dies und das eben.“

Jetzt lachte sie laut auf:

„Na bitte, dann haben wir doch ein Thema. Reden wir doch auch einfach über Dies und Das!“

Jetzt musste auch ich lachen. Mit einem Mal war alle Spannung verschwunden. Und ich war ihr dankbar, dass sie mich auf jene Weise aus dieser peinlichen Lage, in die ich mich selbst gebracht hatte, befreite. Aber ihre offene unkomplizierte Art überraschte mich eigentlich nicht. So hatte ich sie eingeschätzt.

Sie hatte eine Kontaktanzeige aufgegeben. Nun, normalerweise interessiere ich mich für diese Zeitungsrubriken überhaupt nicht. Ich konnte dieser Art des Kennenlernens nichts abgewinnen. Zudem war ich auch gar nicht auf der Suche nach einer Partnerschaft. Denn ich hatte gerade erst eine andere Beziehung beendet.

Heidi war an sich ein ganz lieber Mensch. Unsere Beziehung lief schon eine ziemliche Weile recht gut. Wenn da nicht dieser eine, kleine, aber dennoch bedeutende Haken gewesen wäre. Heide konnte selbst bei den kleinsten Problemen des Alltags, tagelang das „Für und Wider“ einer Sache vor sich her wälzten, ohne sich letztlich irgendwie entscheiden zu können. Meistens setzte ich dann einen Punkt, indem ich die Sache regelte. Woraufhin sie mir Spontanität vorwarf und mich, mit der Zeit immer wütender werdend, als außerordentlich dominant verurteilte.

Doch dann hatte ich die Schnauzen voll, von diesem, bis zur Agonie gehemmten Leben. Entschlossen hatte ich eine letzte Entscheidung über unsere Beziehung getroffen. Dabei bin ich mir jedoch sicher gewesen, dass auch sie schon seit langem über diesen Punkt gegrübelt hatte. So werde ich sie zum Abschied, wohl noch ein letztes Mal dominiert haben.

Genau in diesem Augenblick fiel mir die geistreiche Kontaktanzeige von Resi in die Hände. Sie beschrieb sich, in geistreich amüsanter Weise, als eine Frau, die viele Gemeinsamkeiten mit mir zu haben schien. Sie ließ dabei so viel frisches Leben aus sich heraus sprudeln, dass ich, ehe ich mich versah, ihr eine Antwort geschrieben hatte. Vollkommend überraschend bekam ich eine Antwort von ihr. So kam es zu unserem Treffen in diesem Frankfurter Café.

In heiterer Atmosphäre entspannte sich nun ein munteres Gespräch. Wir unterhielten uns über unsere Berufe, unsere Hobbies und unsere Träume.

„Ich wollte einmal im Leben den Kilimandscharo besteigen. Es gab Freunde, die mit mir diese Tour gehen wollten. Aus der Idee wurde ein Projekt. Als es dann aber soweit war, dass die Planungen vollendet war und wir hätten losziehen können, war ich mitten in meinem Ingenieursstudium. Ich musste passen. Anschließend war bei mir ein wenig die Luft heraus. Die Schwerkraft zerrte bei mir an so vielen zusätzlichen Pfunden, dass ich kaum noch den Feldberg hochgekommen bin. Und meine Freunde standen mir als Bergkameraden ja nicht mehr zur Verfügung, denn sie hatten sich ihren Traum bereits erfüllt.“

Ein wenig voller Sehnsucht schaute ich in die Ferne. Resi hatte aufmerksam gelauscht. Es entstand eine Stille, in der ich meinem vergebenen Traum ein wenig nachhing. Mit einem Mal schaute Resi mich traurig an. Leise fing sie an zu sprechen:

„Ich hatte auch meinen Traum. Ich wollte einmal zu Fuß um die Welt wandern. Um fremde Menschen, fremde Leben, fremde Kulturen direkt kennenzulernen. Nicht nur an ihnen vorbei rauschen um ein paar nette Fotos zu schießen.“

Das hörte sich so verrückt an, dass ich sofort lachen musste.

„Da werden Sie aber auch eine ganze Menge schwimmen müssen“,

lästerte ich unverschämt daher.

Sie wurde ganz ernst, ja fast böse:

„Das ist kein Witz! Ich hatte es wirklich vor. Zusammen mit Holger.“

„Aber wie will das ein Mensch schaffen? Es sind doch so viele Meere dazwischen.“

„Ja, aber dafür gibt es doch Schiffe und Flugzeuge. Wir wollten natürlich nur die interessantesten Länder von Asien, Amerika und Europa durchlaufen. Der Weg durch Afrika wäre uns zu gefährlich gewesen. Und Australien ist sicher auch eine Reise wert. Aber diesen Kontinent wollten wir uns aussparen. Auch so wäre es eine lange, aber sicher ungeheuer interessante Reise gewesen. Es wären etwa 20000 Kilometer. Diese Strecke kann man in 3 Jahren durchaus bewältigen. Wir hatten schon alles vorbereitet: Landkarten besorgt, Informationen über die Länder zusammengetragen, Routen geplant, Visa beantragt. Schiffs- und Flugpläne gesichtet. Wir hatten das Geld für die Überfahrten und Flüge beisammen. Holger konnte sich beruflich die Zeit nehmen. Unterwegs hätten wir uns durch musikalische und akrobatische Vorführungen ein wenig Geld verdienen können. Alles war bereit. Wir hätten sofort starten können.

Aber sein Motorradunfall nahm mir nicht nur Holger, sondern auch diesen Traum.

Sie machte eine lange Pause und starrte dabei durch den Tisch. Dann fuhr sie fort:

Es gab niemals mehr jemanden, mit dem ich mich auf diesen Weg hätte machen wollen.

Betroffen sah ich sie an. Und es drängte mich, ihr zuzurufen:

„Ich werde mit Ihnen gehen!“

Aber ich begriff rechtzeitig: Es ging hier nicht um den Traum, ein wenig um die Welt zu wandern. Es ging hier um den großen Traum von Holger und Resi. In diesem Traum hatte ich nichts verloren.

Zugleich wurde mir klar, dass ich ihr wohl niemals einen solchen Traum bieten können würde. Und ich denke, sie wusste es auch.

 


Hintergrund der Geschichte:
Die Kursleiterin brachte verschiedene Kontaktanzeigen mit. Wir sollten uns eine aussuchen und uns ein Treffen vorstellen, wobei es auch um Träume gehen sollte. Ich konnte mit diesen Anzeigen nichts anfangen, setzte eine fiktive Anzeige voraus und beschrieb unsere fiktiven Träume.


4,5 Seiten