Gerlinde

Wohlgefällig saß die blondgelockte Gerlinde auf ihren Stuhl am Tagungstisch. Sie klappte ihren Laptop zu und sah lächelnd in die Runde. Den kurzen Beifall genoss sie mit Freude. Ja sie war außerordentlich zufrieden mit sich selbst. Sie hatte das Gefühl einen guten Vortrag zur Sache abgegeben zu haben. Hier, vor ihren Kameraden der „Jungen Union“.

Schon immer hatte sie den Drang, ihre Umwelt aktiv zu gestalten. Zunächst hatte sie versucht bei den Jusos Fuß zu fassen. Für Gerlinde schien die Zuwendung zu dieser Partei, aufgrund ihrer Geneigtheiten, einfach die logischere Entscheidung zu sein. Aber diese Jusos waren ihr zu chaotisch. Und sie mochte kein Chaos in ihrem Leben.

Ihr Vater war schon sehr früh gestorben. Sie war gerade sechs Jahre alt gewesen. War somit gerade in einem Alter, in dem sie begann sich in die Welt hineinzuleben. Ihre Mutter war anfangs von den Konsequenzen, die sich aus diesem Unglück ergaben, total überfordert. Oft saß sie dann auf der Couch im Wohnzimmer, starrte vor sich hin und fing unvermittelt an zu weinen. Gerlinde spürte selbst eine große Trauer in sich und kuschelte sich dann zu ihr, legte ihren Arm um sie und schaute sie mit ihren hellfunkelnden blauen Augen einfach an. Nur so, ohne Worte. Schon bald entspannte sich die trauernde Mutter und entsann sich, dass sie in ihrer Tochter noch eine Aufgabe in dieser Welt hatte.

Die nun entstandene Lebenssituation forderte das kleine Mädchen sehr. Denn sie musste mit ihren kleinen Kräften mit dafür sorgen, dass der Haushalt und das Leben nicht aus den Rudern liefen. Sie fühlte, es kam auf sie an, wenn ihre Mutter das Haus verließ um arbeiten zu gehen. Und schnell war ihr klar geworden, dass der wichtigste Baustein für ein geregeltes Leben die Ordnung zu sein schien. So eignete sie sich nach und nach die Fähigkeit an, ihrer Umwelt klare Strukturen zu geben, in der sie und ihre Mutter einiger Maßen gut leben konnten.

Auch in der Schule half es ihr sehr, dass sie Regeln liebte. Es war ihr ein leichtes, den Lernstoff zu erfassen, zu ordnen und dadurch zu überblicken. Das führte sie zu einem sehr guten Abitur. Und auch wenn andere Menschen sich nicht immer an ein wohlgestaltetes Umfeld hielten, mochte sie sehr gerne, mit ihnen umzugehen. Daher wählte sie sich ihr pädagogisches Studium mit Bedacht aus. Sie wollte sich mit einem erzieherischen Beruf einen Wunsch erfüllen, der schon seit frühester Jugend in ihr zu schlummern schien.

Mit 17 Jahren lernte sie Hannes kennen. Er war etwas älter als sie. Gerade über 22 Jahre alt. Mit seiner schlanken sportlichen Gestalt, seinen klugen, graugrünen Augen und seinen etwas wuschigen brünetten Haaren, lies er ihr keine andere Chance, als dass sie sich in ihn verliebte. Da auch er dieses 1,68m große, lebenslustige Fräulein äußerst liebreizend fand, entstand schnell daraus eine feste Beziehung.

Gerlind gefiel seine beredete Art, seine Möglichkeit sich fein auszudrücken. Zu jeder Frage schien er eine Antwort zu wissen. Es war aber nicht nur ein gutes und gebildetes Elternhaus, das ihn so sicher auftreten ließ. Vielmehr eröffnete er ihr, seine Mitgliedschaft in einer politischen Partei.

Nun war es aber gerade jene Zeit, nach ihrer Erfahrung, mit jener, für sie organisatorisch chaotischen Truppe dieser anderen politisch aktiven Jugendorganisation. Eine Erfahrung die sie schnellstens hinter sich lassen wollte. So hatte sie wenig Verlangen danach, sich gesellschaftlich erneut zu organisieren. Hannes jedoch gelang es, mit seiner gefälligen Art, sie zu überzeugen, es doch einmal in seiner Organisation zu versuchen. So führte er sie in die junge Abteilung seiner Partei ein. Und es gefiel ihr sehr gut. Alles war hier bestens geregelt.

Es war ihr eine Wonne die verschiedensten Projekte zu planen voranzutreiben und durchzuführen. Ihre Akribie, ihre Genauigkeit, die Fähigkeit, auch kleinste Dinge zu bedenken, brachte ihr viel Bewunderung ein. Ihr sozialer Rang innerhalb der Organisation stieg steil nach oben, ohne dass sie ein Bestreben danach hatte. Aber es gab Neider. Menschen, die nicht einverstanden waren mit ihrer, durch ihre Tüchtigkeit erworbenen Stellung. Die glaubten, dass ein so „junges Küken“ doch noch gar nichts von der großen Politik verstehen kann. Menschen, die immer wieder verbal giftige Pfeile auf sie abschossen und die oftmals gegen Aktionen stimmten, nur weil sie so diese „Newcomerin“ in ihrer scheinbar übermächtigen Dominanz zu treffen hofften. Eine Dominanz, die eigentlich nur von ihrem Freund Hannes zu kommen schien.

Das kränkte die heranwachsende junge Dame sehr. Denn diese Art von Kritik konnte sie überhaupt nicht ertragen. Der Ärger über diese Unfairness zog ihr heftig durch den Magen und so manches Mal hätte sie gerne alles hingeschissen. Halt bekam sie dann von Hannes. „In einer Partei ist es wie in jeden anderen Verein. Es gibt überall Neider. Aber wer gute Arbeit leistet, wird sich auch durchsetzen. Und du leistest gute Arbeit.“

Verzweifeln konnte Gerlinde aber auch, wenn etwas nicht so richtig lief. Projekte lebten von der Mitarbeit vieler. So wurden die einzelnen Erledigungen eines Vorhabens auf die Schultern der bereitwillig aktiven Gefährten verteilt. Jeder von diesen sorgte für eine eigenverantwortliche Durchführung der ihm zugeteilten Arbeit. So manches Mal jedoch geschah es, dass von einem Helfer eine Zeitmarke gerissen wurde, eine Information nicht ermittelt werden konnte, oder etwas in ihren Augen einfach nur falsch erledigt wurde. Das hasste sie. Alles was ihr an Entschuldigungen entgegengebracht wurde, hielt sie für dumme Ausreden und die Meinung, einem unfähigen Helfer gegenüber zu stehen, wurde in ihr übergroß.

Auch hier half ihr Hannes weiter: „Du bist zu ungeduldig. wenn etwas nicht klappt, mag es viele Gründe dafür geben. Du darfst nicht schimpfen, du musst unterstützen und gemeinsam nach Lösungen suchen.“

Das nahm sich Gerlinde immer mehr zu Herzen. So wurde mit Hilfe ihres Partners, mancher Anfall von Ungeduld in produktiver Zusammenarbeit umgesetzt.

Hannes gab ihr nun schon seit fast drei Jahren einen sicheren Halt. Sie liebte ihn und genoss seine Nähe. So manches Mal träumte sie von einer Familie mit vielen Kindern. Kinder, wie sie als kleine Würmchen auf die Welt kämen, immer älter und verständiger werden würden, um dann als erwachsene Menschen in die Welt hinauszugehen, wiederum um eine eigene Familie gründen zu wollen. Aber ihre Träume endeten immer mit dem gleichen Schrecken. Mit der Angst, Hannes wäre plötzlich nicht mehr da. Hätte sie genauso verlassen müssen, wie einst ihr Vater sie zurückgelassen hatte.

So konnte sie die vielen Anträge, die Hannes ihr immer wieder geduldig stellte, nicht mit der von ihm ersehnten Antwort bescheiden. Aber er wusste um das Schicksal und die Schwierigkeiten seiner geliebten Gerlinde. So zeigte er große Langmut.

„Irgendwann wird sie den Mut haben, dem Schicksal zu trotzen.“

Gerade diese Einfühlsamkeit liebte die junge Frau an ihrem Lebensgefährten. Sie mochte es überhaupt, wenn Menschen mitfühlen konnten. Sie mochte es, wenn Erdenbürgen helfend eingriffen, gerade da, wo es nötig war.

Was sie wirklich hasste, waren Mitbürger, die egoistisch waren. Menschen die nur ihren eigenen Vorteil sahen und über sprichwörtliche Leichen gingen. Diese Abneigung wurde nur übertroffen, von der Ablehnung von intoleranten Menschen.

Ja wenn Menschen sich so verhielten, konnte sie wütend werden. Sehr wütend.

Einmal sah sie, wie so ein rechter Spinner einen, ihr unbekannten dunkelhäutigen Menschen schikanierte. Sein Verhalten wurde immer gemeiner. Bald folgten die ersten Schläge gegen den Körper des Drangsalierten. In Gerlinde kochte die Wut auf. Zum Denken schien hier keine Zeit mehr zu sein. Wie eine Furie fuhr sie auf diesen feigen Neonazi zu und schlug ihn wohin ihre Fäuste auch immer trafen. Aufgeschreckt von dieser plötzlichen Attacke aus dem Hinterhalt, floh der tumbe Schläger mehrere Meter weit weg, bevor er sich umschaute, um den überraschenden Gegner auszumachen. Gerlinde ließ ihn nicht zur Ruhe kommen und fuhr weiter wild schimpfend auf ihn zu. Dem Möchtegern Großen ereilte eine ungewöhnliche Blässe im Gesicht, bevor er sich panisch umwandte und Fersengeld gab.

Befriedigt genoss sie mit dem dankbaren Opfer eine große Tasse Kaffee im nächsten Café. Es ist einfach nicht in Ordnung, wenn Menschen sich so verhalten.

Es ist die Ordnung, die ihrem Leben die nötigen Strukturen, ihr die Sicherheit gab. Aber sie beginnt immer mehr zu ahnen: Ordnung ist vieles, aber das miteinander leben und aufeinander eingehen verlangt sehr viel mehr, als nur Ordnung zu halten.

 


Hintergrund der Geschichte.
Es wurden die Grundtypen menschlicher Verhaltensformen besprochen. Jeder sollte zu einem zugewiesenen Grundtyp eine Figur entwickeln.


4 Seiten