Das Küchen­fenster

Ich lag im Bett. War, was eigentlich selten vorkam, krank. Sonst wäre ich in der Schule gewesen. Gerade vertiefte ich mich in ein Comicheftchen mit den Abenteuern vom Joggibär, da hörte ich von der Straße her das brummen schwerer Lastwagen. Gleichzeitig sah ich den Schimmer blauer Lichter meiner Zimmerwand entlang tanzen. Noch ehe ich mir Gedanken über dieses sonderbare Spektakel machen konnte, ertönte von der Küche her, die nach der anderen Seite des Hauses lag, ein lauter erschreckter Ausruf meiner Oma. Ich sprang ohne Zögern aus dem Bett und lief schnell zu ihr hin.

Schon an der Küchentür bemerkte ich eine ungewöhnliche Düsternis draußen vor dem Haus. Meine Großmutter stand am Küchenfenster und starrte hinaus. Ihre Hände hatte sie auf die Wangen geschlagen und mit bleichem Gesicht fixierte sie ein Geschehen auf der Straße, das ich noch nicht erfassen konnte. Ich rannte zum Fenster und lenkte meinen Blick dorthin, wohin auch meine schweigende Großmutter starrte. Nun sah ich den Ort, von dem diese unnatürliche Finsternis ausging.

Im langen Häuserblock schräg gegenüber, auf der anderen Straßenseite, stand der Dachstuhl über seine halbe Länge im Brand. Meterhoch schossen die Flammen in den schwarzen, verqualmten Himmel. Manchmal kalbte eine der Feuerzungen. Schickte einen glühenden Ball heißer Gase in die Höhe. Doch zum Glück glühte dieser nicht lange. Schon nach einer kurzen Strecke war er verloschen. Aber der Wind stand in unserer Richtung. So ließ jedes dieser Kälber uns den Atem stocken.

„Es ist wie damals in Dresden!“. Oma sprach diese Worte nicht, sie hauchte sie nur. Schon oft hatte sie von ihrer Flucht aus Neiße erzählt. Aus Dresden kamen sie vor der großen Bombennacht gerade noch heraus. Ich wusste, was sie mit ihren gehauchten Worten meinte. Verstand es aber nicht.

Es war so dunkel geworden, dass die Straßenlaternen meinten, ihren Dienst aufnehmen zu müssen. Auf scheinbar verlorenen Posten strahlten sie ihr Licht ab. Doch die feinen dunklen Partikel des Feuers raubten ihnen ihre Kraft, so dass ihr Leuchten nur geschwächt durchkam. Sie beleuchteten eine, durch viele Feuerwehrfahrzeuge total versperrte Straße. Das blaue Blinken deren Alarmlichter trug ebenso zur Unwirklichkeit der Szene bei, wie das hektische scheinende Treiben der Löschmannschaften.
Aber dieses war wohl organisiert. Große Schlauchtrommeln wurden eilig zu den nächsten Hydraten gerollt. Immer mehr Löschleitungen wurden verlegt und angeschlossen. Die roten Leiterwagen der Feuerwehr wurden auf die Wiese zwischen den Häuserblocks bugsiert, gesichert und die Leitern ausgefahren. Mit Schlauch bewehrte Männer erkletterten emsig die Stiegen.

Noch immer stand Oma da und starrte hinüber. Eigentlich müsste sie langsam an das Mittagessen denken. Meine Geschwister würden bald von der Schule heimkommen. Gewöhnlich war das Essen dann fertig zubereitet. Nun standen wir einfach nur stumm da und sahen in dieses Inferno.

Auf der anderen, von uns nicht einsehbare Seite des brennenden viergeschossigen Häuserblockes waren sie offensichtlich schon fortgeschritten mit ihrer Arbeit. Denn von dort konnte man den ersten Wasserstrahl in das bereits teilweise eingestürzte Dach stechen sehen. Und wieder brach ein Teil des Dachstuhles ein. Eine riesige Schar Funken sprühten nach allen Seiten davon. Einen Augenblick lang war kein Feuer in dem mächtigen gewordenen Qualm zu sehen. Dann schlugen die Flammen wieder durch die nun noch größere Öffnung des Daches. Wilder als vorher

Endlich spritzte das Wasser auch von unserer Seite in diesen Brand hinein. Aber es schien überhaupt nichts zu bewirken. Die Flammen tanzten so heftig wie zuvor und schienen die Feuerwehrmänner zu verhöhnen. Ein weiteres Stück des flammenbezüngelten Hausdaches brach ein, begleitet von dem Aufschrei vieler Schaulustiger.

Die Leute, die in der Schwärze der Luft fast schemenhaft geworden waren, standen entlang der Straße. Viele nur sprachlos, mit aufgerissenem Mund, starrend in die Feuerbrunst. Eben gerade aufschreiend. Einige verfolgten aufmerksam die heldenhafte Tätigkeit der Mannschaft von der Feuerwehr. Gestenreiche Unterhaltungen waren zu entdecke. Sie schienen die Arbeit zu kommentieren oder vielleicht doch eigene Taktiken zum Kampf gegen das Feuer zu entwickeln.

Oma wendete sich ab. Von irgendwo schien ein Signal gekommen zu sein, welches sie daran erinnerte, ihre Pflicht zu tun. Stumm und ohne ihren üblichen Elan bereitete sie mit Ihrer Routine das Mittagsmahl zu. Immer wieder warf sie einen Blick nach draußen. Ich blieb die ganze Zeit am Fenster stehen. Wie gefesselt musste ich diese Katastrophe beobachten, die sich noch immer vor meinen Augen abspielte.

Es dauerte eine schier endlose Zeit, bis man erahnen konnte, dass die Flammen ihre Kraft verloren hatten. Sie schlugen nicht mehr so hoch. Es stürzte nichts mehr ein. Man erkannte nun schon die ersten Feuerwehrleute in der großen Lücke auf dem Dach die sich mit spritzenden Schläuchen durch die Trümmer kämpften.

Die Männer auf den Leitern stellten ihren erfolgreich geführten Kampf ein. Wohl auch um ihre Kollegen auf dem Dach nicht zu gefährden. Bald schien alles gelöscht zu sein. Nur noch träge quoll dunkler Rauch und heißer Wasserdampf noch oben. Langsam wurde der Himmel wieder blau und der Ruß setzte sich, alles schwärzend auf die umliegende Landschaft. Die Menschen gingen zurück in ihre Wohnungen. Nur die Wagen der Feuerwehr versperrten noch eine ganze Weile die Straße. Dann zogen auch sie ab. Bis auf eine kleine Mannschaft, die noch lange die Wache hielt.

Noch viele Monate danach wurde unser Blick beim Hinausschauen aus dem Küchenfenster von diesem Dachstuhl angezogen. Auch als er lange schon wieder aufgebaut worden war kamen die Erinnerungen an dieses flammende Inferno.

Und jedes Mal mussten wir uns davon überzeugen:
Schlugen etwa wieder Flammen aus dem Dach heraus?

 


Hintergrund zu dieser Geschichte: Eine erlebte dramatische Geschichte schreiben. Dabei einen sicheren Ort einnehmen, wie hinter einem Fenster und Emotionen nur durch Umschreibungen, nicht aber direkt auszudrücken.


3 Seiten