Miss Jane Marple

Eine Hommage an meine Lieblingsschriftstellerin Agatha Christie. Frei nach ihrem Roman „Vorhang“

„Hercules ist tot!“

Bleischwer schwebte dieser Satz durch den Raum. Niedergeschlagen saß der hagere Arthur Hastings der alten Dame gegenüber, die ihn mit ihren leicht wässrigen, aber dennoch sehr wachen Augen musterte. Im Blick der Dame konnte man ein leichtes erschrecken erkennen. Aber die sehr schmächtige, grauhaarige Dame hielt die entstandene Stille aus. Nach einer Weile fuhr Mr. Hastings fort:

„Er ist einfach gestorben. Hat einen letzten Herzanfall bekommen. Einfach so! Mitten in der Nacht! Am Morgen hat man ihn in seinem verschlossenen Zimmer gefunden – tot.“

Nun erst schlug Miss Marple die Hände zusammen:

„Grundgütiger! Was für ein Verlust. Aber seine Erkrankung war doch bekannt. Er hatte doch sicher seine Medikamente bereitgestellt. Hat er sein Amylnitrit nicht mehr nehmen können?“

Traurig schüttelte der ebenfalls Grauhaarige seinen Kopf:

„Ich weiß es nicht. Es war nicht auf seinem Platz! Wir haben danach gesucht. Im hintersten Eck seines Schrankes haben wir es gefunden.“

Jane Marples Körper straffte sich etwas:

„In der hintersten Ecke seines Schrankes? Wie kam es denn dort hin?“

Der mit einem dunkelblauen, eleganten Zweireiher bekleidete Arthur Hastings schwieg. Er wusste keine Antwort und konnte daher auch keine geben. Miss Marple schüttelte den Kopf:

„Es ist doch sehr ungewöhnlich, dass sein Mittel nicht bereitstand.

Hercules Poirot ist doch…, war doch im allem so penibel. Da stimmt etwas nicht!“

Mr. Hastings schaute erstaunt in das wache Gesicht der alten Dame:

„Wie meinen Sie das?“

Miss Marple stand auf, ging zum Herd und setzte einen Kessel mit Wasser auf.

„Ich mache uns noch einen Tee. Ich glaube wir werden ihn brauchen können.“

Eifrig wuselte, die mit einem mittelbraunen, etwas abgenutzten Tweed-Kostüm und einer hellen Bluse bekleidete Dame, behände in der Küche herum. Bis sie alles zu ihrer Zufriedenheit in Gang gebracht hatte. Dann kehrte sie zu Arthur Hastings an den Tisch zurück.

„Hercules Poirot war in allem sehr akkurat. Er hätte niemals versäumt, ein so wichtiges Medikament bereitzustellen. Warum also war es nicht auf seinem Platz? Was war in den Tagen vorher geschehen? Wurde er irgendwie bedroht?“

Mr. Hastings richtete sich auf und starrte erschrocken ins Leere. Ihm war offenbar etwas bewusst geworden. Etwas, dass er niemals mit dem Tod seines alten Freundes in Verbindung gebracht hätte:

„Ja natürlich! Er suchte einen Mörder. Ich sollte ihm dabei helfen. Wissen Sie, er war nicht bei bester Gesundheit und an einen Rollstuhl gebunden. So konnte er nicht mehr überall dabei sein. Ich sollte seine Augen und seine Ohren sein. So hat er es selber ausgedrückt. Es war aber alles so verwirrend.“

Hastings schwieg und versank in seinen Gedanken. Miss Marple schaute ihn fragend an:

„Was war verwirrend? Was für einen Mörder suchte er denn?“

Hercules alter Freund schrak auf und suchte die richtigen Worte. Er fand sie nicht. So betretend dreinschauend hatte man den großen hageren Mann selten gesehen. Bedauernd gestand er:

„Ich weiß es nicht!“

Die Stirn der kleinen, alten Dame fiel in tiefe Falten:

„Sie sollten ihm doch helfen. Er muss ihnen doch etwas über den Mörder erzählt haben.“

Mr. Hastings schüttelte den Kopf und schwieg nachdenklich eine Weile. Als er zur Antwort ansetzen wollte, ließ der Wasserkocher in der Küche seinen Pfeifton erschallen. Miss Marple sprang auf, eilte zum Herd, brühte den Tee auf und brachte die Kanne zum Tisch.

„Möchten sie noch ein paar von den Haferkeksen haben?“,

fragte sie freundlich. Mr. Hastings nickte beflissen, ohne wirklich zu wissen was er tat. Seine Gedanken waren zwei Wochen zurückgeeilt. Zu dem Zeitpunkt, als er seinen, so hinfällig gewordenen, alten Kameraden im Styles-Haus wieder getroffen hatte.

Poirot war sehr aufgeregt gewesen und redete beständig von einem hinterhältigen Mörder der unter den Gästen der Familie Luttrell, den Besitzer von Styles-Haus, weilen sollte. Das sonderbare war, dass zu allen Morden, die er diesen unbekannten Gegner zur Last legte, bereits eine andere Person zweifelsfrei überführt und verurteilt worden war. War Hercules Poirot vielleicht verrückt geworden?

Dann aber geschahen zwei weitere Morde. Beim ersten schien der Mörder bald festzustehen, der zweite Mord stellte sich als Selbstmord heraus. In der gleichen Nacht starb Hercules Poirot. Hatte er zu all diesen Vorgängen vielleicht doch zu einer anderen Lösung gefunden? War er deshalb ermordet worden?

Arthur Hastings erschrak über diesen Gedanken, der ihm zum ersten Mal in den Kopf gekommen war.

Miss Marple musterte ihn. Sie schien seine Gedanken lesen zu können:

„Es ist ein erschreckender Gedanken, dass Mr. Poirot ermordete worden sein könnte, nicht wahr?“

„Das kann doch nicht wahr sein. Wer sollte es denn gewesen sein?“

„Sie müssen mir unbedingt alles erzählen, was in den Tagen vor Hercules Poirots Tod vorgefallen war.“, forderte die alte Dame Mr. Hastings auf.

Arthur Hastings begann seinen Bericht mit dem beinahe tödlichen Jagdunfall, dem Mrs. Luttrell fast zu Opfer gefallen wäre. Mr. Luttrell hatte den Schuss abgegeben. Das von ihm anvisierte, hinter einem Busch huschende Wild, führte den Lauf seines Gewehres direkt in Richtung seiner Frau. Die Kugel streifte sie, verfehlte nur knapp lebenswichtige Organe. Es entstand ein Verdacht gegen den Schützen, da er kurz vorher, nach einem konspirativen Gespräch mit Mr. Norton, sehr wütend über seine Frau gewesen zu sein schien. Aber Mr. Luttrell konnte jeden Verdacht zerstreuen.

Mr. Hastings berichtete auch darüber, wie er selbst wutschnaubend durch das Haus gelaufen war. Er war tatsächlich unterwegs, mit der Bereitschaft, selbst einen Mord zu vollbringen. Es war Mr. Norton, der ihm berichtet hatte, wie abschätzig, schmutzig und gemein sein anvisiertes Opfer seine Tochter behandelt hatte, die auch Gast im Hause Styles war. Dass es nicht zur Tat kam, verdankte Arthur Hastings nur einer wundersamen Fügung des Schicksals.

Hinter der erwähnten, begangenen Mordtat, schien ein Eifersuchtsdrama zu stehen. Der Selbstmord von Mr. Norton kam zwar überraschend, aber es schien eindeutig ein Freitod zu sein. Auch wenn es keinen Abschiedsbrief gab.

Mr. Hastings schloss seinen Bericht mit den Worten:

„Ich habe in der ganzen Zeit keinen hinterhältigen Serienmörder erkennen können. Doch Hercules meinte, um ihn zu wissen. Er erwartete sogar noch einen weiteren Mord. Das hatte er mir selbst sehr eindringlich dargelegt. Der Tod von ihm schien allerdings seinem hohen Alter und seiner schlechten Gesundheit geschuldet zu sein.“

„Wenn da nicht das abhanden gekommene Amylnitrit wäre!“,

gab Miss Marple zu bedenken. Sie schlürfte ihren Tee und schaute ihr Gegenüber voller Spannung an:

„Wie ist der Mann gestorben, der Selbstmord begangen haben soll?“

Arthur Hastings schaute verblüfft auf:

„Warum möchten Sie dies wissen? Mr. Norton hat sich einen Revolver an die Schläfe gesetzt und abgedrückt. Es muss Selbstmorde gewesen sein. Das Zimmer war verschlossen, der Schlüssel lag neben dem Toten auf dem Nachtschränkchen.“

Miss Marple nickte zufrieden:

„Und es war dieselbe Nacht, in der Hercules Poirot starb?“

Mr. Hastings bestätigte es ihr. Er sah, wie Miss Marple sich sehr nachdenklich zurücklehnte. Minutenlang verharrte sich in dieser Zurückgezogenheit. Dann erwachte sie aus dieser Starre mit einem heftigen Kopfschütteln:

„Grundgütiger, ich kann es fast nicht glauben! Aber es muss so gewesen sein!“

Ihr Gegenüber wurde unruhig, als sie zunächst nicht weiterredete:

„Was können sie nicht glauben? Sagen Sie schon! Ist ihnen etwas aufgefallen?“

Die alte Dame schaute ihren Gast an. Ihre Augen schienen noch eine Spur wässriger geworden zu sein:

„Wissen Sie Mr. Hastings, als Sie mir berichteten, fiel mir sofort die Nichte meiner Freundin Norma ein. Sie ist ein furchtbares Mädchen. Immer wieder stachelte sie ihre beiden Brüder zu einem Streit an. Sie erzählt mal dem Einen und mal dem Anderen irgendwelche Halbwahrheiten, die diese dann gegeneinander aufbringen. Es sind Dinge die einen wahren Kern haben, sonst aber nur geschwindelt sind. So bringt sie ihre Geschwister dazu, im ständigen Streit zu leben. Sie hat nichts davon, außer der Freude, sich ins Fäustchen lachen zu können.“

Mr. Hastings verstand überhaupt nichts:

„Und was hat diese Nichte nun mit den Ereignissen Styles-Haus zu tun?“

Jane Marple schaute in sehr verständnisvoll an:

„Mr. Hastings, sie hat nichts mit jenen Ereignissen zu tun, dessen Zeuge sie geworden sind! Verstehen Sie nicht? Mr. Poirot suchte nach einem ganz bestimmen Menschen. Einem, der andere aufstacheln konnte. Mr. Luttrell schoss auf seine Frau. Wer brachte ihn vorher auf? Sie selbst rannten mit Mordgedanken durch das Haus. Wer gab ihnen den Anlass dazu. Ich glaube bei all den Morden, die Mr. Poirot zusammengetragen hatte, stand immer eine Person im Hintergrund. Eine, welche die Leute aufgehetzt hatte. Das war sein Mörder. Ahnen Sie nun, wer dies gewesen sein könnte?“

Hastings hatte sich mit erschrockenem Gesicht zurückgelehnt, Fast tonlos hauchte er den Namen heraus:

„Mr. Norton! – Hat er auch Hercules getötet? – Und hat er sich anschließend selbst gerichtet? Aber warum nur?“

Tiefstes Bedauern zeichnete das Gesicht der alten Dame:

„Lieber Mr. Hastings, ich befürchte es ist noch viel schlimmer!“

Während Arthur Hastings wie versteinert dasaß und darauf wartete, dass Miss Marple mit ihren Ausführungen fortfuhr, nahm sie in aller Ruhe einen weiteren kleinen Schluck aus ihrer Tasse Tee. Anschließend stellte sie diese, mit langsamer, geübter Bewegung, geräuschlos auf die Untertasse zurück. Nun griff sie zum Teller mit den köstlichen Haferkeksen und bot sie ihren Gast dar. Mr. Hastings griff mechanisch zu, führte den aufgenommenen Keks zum Mund, biss aber nicht hinein. Vielmehr sank seine Hand langsam zu seinem Kuchenteller nieder, als Miss Marple fortfuhr zu erklären:

„Mr. Hastings, Sie kennen Hercules viel besser als ich. Ich habe ihn niemals getroffen und kenne ihn nur aus den Berichten der Zeitungen und aus Ihren Erzählungen. Aber mir ist klar, das Mr. Poirot sehr penibel in allem war.

Wieso also stand diese Medizin nicht auf ihrem Platz? Er hätte sie gesucht, wäre sie nicht zurechtgestellt gewesen, als er schlafen ging. Sicher hatte er auch eine Reserveflasche dabei, wie die meisten Menschen, die auf eine so lebenswichtige Arznei angewiesen sind. Nein, bevor er schlafen ging, wäre die Medizin auf jeden Fall auf ihren Platz gewesen. Dafür hätte er gesorgt.
Wurde sie also entfernt, als er schon schlief? Sie erwähnten jedoch, dass die Tür verschlossen war und der Schlüssel von innen steckte. Wer also hätte den Raum betreten können? Niemand! Nein, wenn jemand die Flasche weggestellt hatte, konnte es nur eine Person gewesen sein – er selbst!“

Miss Marple hielt einen Augenblick inne und beobachtete die heftige Reaktion von Arthur Hastings. Er war aufgesprungen und zum Fenster geeilt. Dort starrte er einen Moment lang in den hübschen, gepflegten Garten seiner Gastgeberin. Dann drehte er sich abrupt herum und schaute Miss Marple zweifelnd an:

„Warum hätte er dies tun sollen. Er wusste doch, was es bedeuten würde, sollte er einen Anfall bekommen!“

Miss Marple sprach nun ganz sanft zu Mr. Hastings:

„Ja dies wusste er genau. Aber mir scheint, er glaubte, dieses Schicksal verdient zu haben. Denn ich befürchte, er hat etwas schreckliches getan.“

Arthur Hastings ging nun langsam wieder zum Tisch zurück und nahm seinen Platz wieder ein. Er ahnte bereits, was ihm seine Gastgeberin noch offenbaren würde. Und er ahnte, dass Miss Marple vollkommen Recht damit haben würde.

„Sehen Sie Mr. Hastings, Mr. Poirot hatte sich gut vorbereitet, als er nach Styles-Haus ging. Er wusste alles über Mr. Norton. Und er wusste, dass diesem Mann, der solch eine teuflische Freude daran hatte, andere Menschen ins Unglück zu treiben, rechtlich nicht beizukommen war. Ich glaube, er wollte diesem Mann das Handwerk legen, um weitere Missetaten zu verhindern. Und er wollte, dass er seine Strafe erhielt. Der Schlüssel zu Mr. Nortons Zimmer lag auf dessen Nachttisch. Also konnte man den Raum leicht mit Hilfe eines Nachschlüssels betreten. Ich bin mir sicher, Mr. Poirot tat, was er glaubte, tun zu müssen. Genaueres weiß ich nicht. Aber ich befürchte, er fällte ein Urteil und vollstreckte es. Danach legte er das Gericht und Urteil über seine eigene Tat in Gottes Hand. Deshalb muss er das Amylnitrit selbst in den Schrank gestellt haben.“

Arthur Hastings war ganz blass im Gesicht geworden und in sich zusammen-gesunken. Mit leiser Stimme zog er ein letztes Resümee:

„So ist doch tatsächlich der Mord gesehen, den Hercules Poirot mir angekündigt hatte. Er wusste, dass dieser geschehen würde, weil er die Entschlossenheit des Täters nur zu gut kannte. Seine eigene Entschlossenheit!“

 


Hintergrund zu der Geschichte:
Aufgabe im Schreibatelier war es, eine Geschichte mit oder über eine Literarischen Gestalt zu erzählen. Auch wenn im Buch von Agatha Christie das Geheimnis von Hercules Poirot auf anderen Wege Hastings entdeckt wird, finde ich, es gibt nur eine Person, der die Aufklärung dieses Falles gebührt. Miss Jane Marple!


7,5 Seiten