Jens war dreiunddreißig Jahre alt. Er war ein hagerer, sportlich aussehender Mann, der sich durch sein Outfit sehr individuell auszudrücken schien. Aber er wollte kein Individualist sein. Denn deren Lebenseinstellung war es ja, anders zu sein. Immer wieder hinterfragte er diese Einstellung:
„Anders zu sein, als was?“.
Keiner dieser Individualisten hat ihm bisher eine zufriedenstellende Antwort geben können.
Jens wollte vielmehr authentisch sein. Es war sein Bestreben, Körper und Geist zu einer untrennbaren Einheit zusammenzuführen. Nur in dieser Einheit konnte er sich selbst finden. Gerade dies war es, was er sein wollte: Er selbst. Und nur in sich selbst konnte er den Frieden finden, den er anstrebte. Diese Philosophie lernte er bei einem weisen Kung-Fu-Meister. Dieser hatte ihn unter seine Fittiche genommen, als er nach dem Unfalltod seiner Eltern auf der Straße gelandet war. Jetzt hatte er selbst den ersten Meistergrad dieser Kung-Fu-Schule erworben.
Er hatte Sport studiert, fand aber niemals einen geregelten Beruf, den er mit diesem Erlernten ausüben wollte. Stattdessen verdiente er sich seinen Lebensunterhalt in der asiatischen Kampfsportschule, in der er jungen Schülern seine Lebenswelt vermittelte. Er wollte aus Ihnen keine Kampfmaschinen züchten, wie viele, die zu ihm kamen es sich vorstellten. Vielmehr zeigte er ihnen, wie man in der Einheit von Körper und Geist seinem Leben einen großen Frieden geben konnte.
Diese Aufgabe erfüllte ihn sehr. Dennoch übernahm er gelegentlich auch die Aufgabe, für einen recht erfolgreichen Frankfurter Fußballverein, junge Spieler im Umland seiner Stadt zu beobachten. Von ihm als würdig befundene, frühe Talente, würden dann eine Einladung zum Probetraining an den Bornheimer Hang zugeschickt bekommen.
So war Jens auch an diesem Wochenende unterwegs. Wie in jedem Jahr, stand das Spiel der 8-10 jährigen Fußballer des FSV Linsengericht gegen die jungen Kämpen des SC Lieblos auf dem Spielplan. Jens stand inmitten der meist männlichen Zuschauer mittleren Alters und beobachtete interessiert das Treiben auf und um den Fußballplatz.
Die jungen Spieler aus Lieblos hatten per Münzwurf den Anstoß zugesprochen bekommen und legten sogleich los. Direkt mit einem fulminanten Sturm auf das gegnerische Tor. Noch waren die kleinen Fußballhelden beider Teams dabei, sich in ihren Mannschaften zu finden. So kam es, dass der kleine, schmächtige liebloser Spieler, mit den großaufgedruckten Namen „Holger“ auf dem Trikot, aus bester Position den Ball vertändelte. Die Mannschaft nahm es gelassen hin. Jedoch regte sich zu Jens Überraschung, in dieser ersten Minute unter den Zuschauern bereits großer Unmut.
„Was bist denn Du für ein Tollpatsch? Kannst Du den Ball nicht in das Tor schießen?“
Es war ein etwa 35-jähriger, etwas untersetzter Mann, der dem kleinen Holger so zusetzte. Dieser starrte den Rufer erschrocken an. Dann machte er sich abrupt davon, zurück in die eigene Spielhälfte. Offensichtlich noch im Gedanken über das Erlebte vertieft, bemerkte er nicht, wie ein Spieler aus Linsengericht an ihm vorbei stürmte, direkt auf das eigene Tor zu. Holger, der auf seiner momentanen Position für diesen Angreifer zuständig gewesen wäre, war zu keiner Reaktion fähig. Nur der eigene Torwart verhinderte den Rückstand.
„Sag mal, träumst Du, oder spielst Du hier Fußball? Wach endlich auf, Du Schlafmütze!“,
schrie ihn der Mann erneut an, der ihm hinter der Absperrung an der Spielfeldseite gefolgt war.
Jens schüttelte über so viel Unverstand nur den Kopf. Denn er konnte schon jetzt beim kleinen Jungen eine Menge Talent entdecken. Sah wie er sich geschickt zum Gegner stellte, wie er sich mit und ohne Ball bewegte.
„Was will dieser Mann denn eigentlich?“,
fragte Jens sich selbst und wusste keine Antwort zu geben.
Diese verbale Attacke hatte Folgen. Holger gab seine Position auf und wechselte hinüber auf die andere Seite des Spielfeldes. Dort hatte er allerdings nichts zu suchen. Folgerichtig rief ihn sein Trainer zurück auf die richtige Stellung.
„Weißt Du denn nicht, wo Du zu spielen hast?“,
wurde er wieder von dem zornigen Zuschauer empfangen.
„Aus Dir wird ja wohl nie etwas!“
Langsam fühlte Jens den Wunsch in sich aufsteigen, sich einmal mit diesem Mann zu unterhalten. Er war schon auf dem Weg zu Ihm, da ertönte das Rufzeichen seines Handys. Er hatte diesen Anruf bereits erwartet, deshalb nahm er ihn umgehend an. Dieses Gespräch dauerte eine kleine Weile. So bekam der Fußball-Scout den anschließenden Verlauf des Spieles nur am Rande mit.
Holger schien verzweifelt. Konnte er denn nichts richtig machen? Wieder stürmte ein gegnerischer Spieler auf ihn zu. Dieses Mal träumte der Junge nicht. Heftig trat er zu. Der Stürmer aus Linsengericht flog, einen lauten Schrei ausstoßend, durch die Luft und landete zwei Meter weiter unsanft auf dem grünen Rasen. Eine klare Rote Karte, würde man meinen. Prompt kamen auch die vereinzelten Forderungen aus den Reihen der Zuschauer.
Doch der Schiedsrichter kannte noch einmal Gnade:
„Ich gebe Dir dieses Mal nur gelb, aber beim nächsten Foul bist Du draußen!“
„Spinnst Du Schiri!“,
ertönte es nun erneut vom Rande des Spielfeldes. Der emsige Rufer meldete sich wieder zu Wort:
„Das war doch gar kein Foul! Der Junge hat doch eindeutig den Ball gespielt. Bist Du denn blind?“
Etwas eingeschüchtert sah der 18-jährige Spielleiter den drei Meter entfernt stehenden Zuschauer an. Der Mann baute sich, mit seiner eigentlich nicht sehr imposanten Größe, am Spielfeldrand groß auf:
„Nimm sofort die Karte zurück. Sonst komme ich auf das Feld und treibe Dir die Flausen aus!“
Ohne eine Erwiderung zog sich der Schiedsrichter in die Spielfeldmitte zurück.
„Wir rechnen noch ab!“,
wurde ihm postwendend nachgeschickt.
Der kleine Holger war völlig verwirrt. Diese Unsicherheit breitete sich immer mehr auf sein Spiel aus. Es lief immer mehr an ihm vorbei. Er bekam den Ball zugespielt – er vertändelte ihn sofort. Der Ball lag Einschuss bereit vor seinem Fuß – er trat drüber. Er setzte eines seiner sonst so gekonnten Dribblings an – er blieb hoffnungslos am nächsten Gegner hängen. Jede dieser Aktionen wurde höhnisch von nun bereits bekannter Seite begleitet.
Als dann wiederum ein Spieler aus Linsengericht an ihm vorbeilief, konnte er ihn nur noch am Trikot fassen. Normaler Weise ein gelbwürdiges Foul. Vielleicht, da er die Situation beobachtet hatte, gab ihm der Schiedsrichter nur zu verstehen, dass dies seine letzte unfair Aktion gewesen sei, die er durchgehen ließ. Bei der nächsten Kleinigkeit wäre er wirklich draußen. Dann schaute er intensiv zum Übungsleiter des SC Lieblos hinüber.
Der hagere, etwa vierzig Jahre alte Trainer musste handeln. Folgerichtig holte er Holger sofort vom Platz. Das passte dem zornigen Mann am Spielfeldrand überhaupt nicht:
„Was holst Du meinen Sohn aus dem Spiel? Du Idiot! Holger spielt doch tausendmal besser Fußball, als jeder andere hier auf dem Platz! Du bist doch kein Trainer, Du bist eine Null!“
Mit diesen Worten stieß er den Fußballlehrer voller Verve vor die Brust, dass dieser auf die Aschenbahn taumelte und sich dort hinsetzen musste.
Dies bekam nun auch der Schiedsrichter mit. Er unterbrach das Spiel und eilte zum Ort des Geschehens. Auch er wurde sofort vom aufgebrachten Vater attackiert, indem er ihn von sich wegstieß. Dann wand der Rabauke sich seinem Sohn zu, der niedergeschlagen an der Mittellinie neben dem Spielfeld stand:
„Bist Du von allen guten Geistern verlassen? Kannst Du denn keinen Fußball spielen? Mit Dir blamiert man sich ja nur!“
Und offensichtlich wollte er Holger eine schallende Ohrfeige versetzen. Aber die bereits erhobene Hand wurde durch einen kräftigen Griff ums Handgelenk an jeder weiteren Aktion gehindert. Jens war rechtzeitig mit dem telefonieren fertig geworden.
„Ganz ruhig, Junge! Ihr Sohn kann wirklich gut Fußball spielen! Ich habe es gesehen!“
Diese Anrede stachelte den wildgewordenen Zeitgenossen erst richtig auf. Aber Jens Griff umfasste ihn, wie ein Schraubstock. Gleichzeitig jedoch schien alles, wie an starken Gummibändern gebunden zu sein. Jede Anstrengung und jede Aktion diesen Arm frei zu bekommen oder gar Jens zu attackieren, wurde in scheinbar elastischer Weise. in seiner Wirkung gehindert und auf dem Vater zurückgeleitet. Er zappelte herum, wie ein Fisch an der Angel.
Nun versucht der Schreihals den ihn unbekannten Mann mit seiner anderen Hand zu fassen. Aber dort, wo diese den Peiniger gerade zu greifen können glaubte, war plötzlich eine Leere. Jens befand sich nun hinter den feigen Aggressor, der noch immer nicht aufgeben wollte. Aber er sollte es bald tun. Mit einem geübten schnellen Griff, drückte Jens die Hand des Aufmüpfigen ganz kurz ins Handgelenk, sodass dieser mit einem lauten Schmerzensschrei in die Knie ging. Nun gab dieser alle Gegenwehr auf. Jens lockerte den Griff und ließ den ruhig gewordenen Mann aufstehen. Der Vater starrte ihn zunächst sprachlos an. Doch dann fing er sich, machte eine abwertende Bewegung und tönte erneut los:
„Was soll denn das. Warum greifen Sie mich an?“
„Ich habe Sie nicht angegriffen. Ich habe nur verhindert, dass Sie Ihren eigenen Sohn schlagen.“
„Das geht Sie doch gar nichts an!“
„Doch! Ich glaube es geht jeden etwas an, wenn ein Kind geschlagen werden soll. Das ist doch kein Weg! Ihr Sohn hat dies nicht verdient! Oder glauben Sie wirklich etwas anderes?“
Beschämt schaute der Mann nach unten:
„Mein Sohn hat mich einfach nur enttäuscht! Er hat von Anfang an nur Fehler gemacht!“
Jens schüttelte energisch den Kopf:
„Nein! Er hat nur am Anfang einen Fehler gemacht. Anschließend kamen alle Fehler von Ihnen!“
Der Vater machte einen schnellen kleinen Schritt auf Jens zu und wollte sich wieder auf seinen Kritiker stürzen. Hielt sich aber, auf Grund der gerade gemachten Erfahrung, sofort zurück. Dies war kein Gegner, mit dem es der, im Grunde feige Vater, aufnehmen wollte. Stattdessen fragte er provokativ nach:
„Was soll ich denn für Fehler gemacht haben? Ich stand doch gar nicht auf dem Platz!“
„Sehen Sie, genau das ist es. Standen Sie denn überhaupt jemals auf einem solchen Spielfeld?“
„Nein, natürlich nicht. Ich hatte nie Interesse am Spielen. Ich schaue lieber zu!“
„Dann wissen Sie doch gar nicht, wie es auf dem Platz ist. Sie kennen das Lampenfieber nicht, die Nervosität, die man erst einmal überwinden muss. Wissen nicht, wie man die Zeichen eines Spiels erkennen und lesen muss. Auch nicht, wie man sich als Mannschaft erst finden muss, um Großes leisten zu können. Sie schauen nur zu und haben von all dem keine Ahnung.
Stattdessen haben Sie ihren Sohn nur niedergemacht. Gerade in dem Moment, wo er Ermutigung gebraucht hätte. Würden Sie denn in einer solchen Situation gut handeln können? Besonders dann, wenn es ihr eigener Vater wäre, der Sie so anfährt. Sie sind es doch, auf dem dieser kleine Junge schauen möchte. Sie sind sein Vorbild, sein Held! Sie waren doch auch einmal ein Kind. Haben Sie wirklich alles schon vergessen?“
Nun schwieg der Mann. Es schien, als würde er sich doch noch an seine eigene Kindheit erinnern können. Ein Schmerz huschte über sein Gesicht. Ja, auch er war einmal jung gewesen. Und auch er hatte einen Vater gehabt. Sehr ruhig und nachdenklich verließ er den Platz.
Hintergrund der Geschichte:
Wir durften aus einer großen Anzahl von Fotos das Bild einer Person auswählen. Über diese uns unbekannte Person sollte eine Geschichte geschrieben werden, in der diese Person eingreift, oder auch nicht eingreift.
6,5 Seiten