Mein Name während meiner ersten Lebensphase war Kater, Mieze, Peter oder zuweilen auch Mistvieh. Je nachdem, wer mich rief und welche Laune dieser Menschling gerade hatte.
Heute lebe ich das Zweite meiner neun Katzenleben in einer Welt, die von meinen alten Wegbegleitern nicht erfasst werden kann. Damals, als es galt mein erstes Leben zu genießen, verbrachte ich meine Zeit in der Menschenwelt. Ich hatte eine Heimat bei meiner Herrin, ihrem Kater und deren gemeinsamen Wurf von fünf Nachkömmlingen. Es war ein sehr angenehmes, ruhiges Leben.
Ich hatte aber auch großes Glück gehabt. Denn der Kater meiner Gebieterin war ein Spezialist in der Futterbeschaffung, sodass ich tagein, tagaus nur vom Besten zum Fressen bekam. Da gab es alles, was sich eine Katze an Leckereinen erträumen konnte: Schweine- und Rinderlunge, Herz, Panzen, Milz und was es an tierischen Schlemmereien sonst noch Leckeres gab.
Nur Leber und Nieren bekam ich nie. Die gab die Menschin immer nur an ihre eigenen Abkömmlinge weiter. Dies fand ich jedoch überhaupt nicht fair und steigerte meine Gier danach ins unermessliche. Wollte ich nun trotzdem etwas davon abhaben, musste ich es mir mit viel Geschick und raffinierter List selber besorgen.
Das war sehr schwierig. Galt es doch an den Platz zu gelangen, an dem diese Spezereien zubereitet wurden. Dazu musste die Höhe eines Tisches überwunden werden. Aber als klardenkende Katze, hatte ich schnell meine Technik entwickelt.
Mit meiner linken Vorderpfote zog ich mich an der Kante jenes Tisches hoch, an dem die Hüterin des Fleisches das Essen zurecht machte. So baumelte ich einen Augenblick in der Luft hängend, hin und her, bis es mir gelang, meine Lage zu stabilisieren. Nun konnte ich mit der anderen Pfote nach dem begehrten Fleisch angeln. Dabei musste ich aber höllisch aufpassen, dass ich nicht unter die großen scharfen Krallen meiner Hüterin kam, mit denen sie die begehrte Beute zerteilte. Und ich musste schnell sein. Meistens hatte ich nur einen Versuch, ein Stück dieser Leckereien zubekommen. Denn die Futtermeisterin bemerkte natürlich meine Attacke sofort und ich musste den schweren Ärger entgehen der mir augenblicklich entgegenschlug. Wie gesagt, diese Innereien gehörten stets ihrem eigenen Wurf.
Das gleiche Theater hatte ich auch, wenn der Geruch vom frischen Fisch durch mein Domizil zog. Auch hier wollte die Herrin nicht mit mir teilen. Aber ab und an gelangen es mir doch, ein Stück der Speise zu erhaschen.
Bei geflügelter Speise dagegen war mein Anteil gesichert. Die mochte ich auch lieber gegrillt, so wie es die ganze Familie bevorzugte. Ich streifte also beständig um die Fressstelle meiner Familie herum, von einer Person zur anderen. Und jedes Mal bekam ich sogleich meinen Anteil des zarten Hühnerfleisches zugereicht. So werde ich gewiss am Ende jeder Fütterung einen ganzen Vogel verspeist gehabt haben.
Dass ich bei einer solchen vortrefflichen und fürsorglichen Versorgung kein Interesse an lebende Futter, wie Mäuse, wilden Piepmätzen oder ähnliches hatte, welches ich mir ja erst hätte erjagen müssen, kann der geneigte Zuhörer sicher verstehen. So lebte ich in meiner sicheren Welt, in der dieses Getier gar nicht vorkam.
Jedoch, einmal setzten die Kleinen meiner Herrin ein solches widerliches Krabbeltier, eines mit besonders spitzen Zähnen, in meinem Revier aus. Huch, das wollte ich mir dann doch lieber aus einer gesicherten Deckung ansehen. Auch wenn das für eine Katze ziemlich komisch aussehen mag. So zog ich mich doch lieber auf eines der höherstehenden Möbelstücke zurück. Diese kleinen Hamster können mit ihren spitzen Zähnen sicherlich sehr schmerzhaft zubeißen. Warum soll ich ohne Not den Heldentod sterben. Nein, nein ich bleibe dabei, da machte ich mich lieber schleunigst aus dem Staub. Den Spott der da kommen mag, werde ich schon ertragen können.
Ja diese Gefahren der Umwelt. Warum sollte ich mich ihnen aussetzen? Ich blieb am liebsten in meinem Revier. Da war es warm, es gab zu Essen und zu Trinken. Meine Bediensteten umsorgten mich sehr. Es gab für mich keinen Grund, eine andere Welt zu erkunden.
Sollte ich aber tatsächlich einmal, durch puren Übereifer, oder einer kleinen Ungeschicklichkeit, das Heim über die Fensterbank oder die Balkonkante verlassen haben, so blieb ich da wo ich in der Wildnis aufkam wie angewurzelt sitzen. Nur nicht bewegen. Dann konnte ich mich auch nicht verlaufen und in die Irre gehen. Ich rief sofort mit lauter, starker Stimme nach meiner Familie. Diese kam dann bald herbeigeeilt und durfte mich nach Hause ins sichere Revier zurücktragen.
Wie gesagt, außerhalb meines Reviers gab es für mich nichts zu entdecken. Auch das Interesse an ein Weibchen meiner Art zog mich nicht hinaus. Mein Interesse daran war nach einem kleinen Schnitt auf null gesunken. So lebte ich fern und ohne jeglichen Kontakt zu anderen Artgenossen. Doch eines Tages erschien mitten in meinem Revier ein gleicher edler schwarzweißer Kater, gerade wie ich es selber war. Seltsamer Weise gab er keinen Duft von sich. Auch hörte ich keine Stimme von ihm, wenn er zu mauzen schien. Und jede Anstrengung an ihn heranzukommen scheiterten hinter einer Wand. Kampfbereit wollte ich mich auf diesen fremden Eindringling stürzen. Jedoch, ebenso entschlossen und wütend schoss er auf mich zu. Aber wir erreichten uns einfach nicht. Mit derselben Neugierde wie er, begann ich nun nach ihn zu forschen. Aber dieser seltsame Geselle war irgendwie gar nicht da. Erst spät begriff ich, dass ich auf der Jagd nach meinem eigenen virtuellen Ich gewesen war.
Diese Episode mag euch jetzt überrascht haben. Ja, auch ich hatte ein Kämpferherz. Man denkt ja, so eine Katze lebt von Ihrem Instinkt zur Jagd. Das mag ja bei anderen Gesellen meiner Art so zu sein. Jedoch ich musste sicherlich nicht davon leben. Aber ein bisschen jagen wollte ich das eine oder andere Mal dann doch. Die beste Jagdzeit ist natürlich die Nacht. Meine bevorzugte Beute: Die Beine der Abkömmlinge. Sollten sie sich in der Dunkelheit einmal aus ihrer Schlafhöhle gewagt haben, lag ich auf der Lauer. Und ehe sie sich versahen, fuhr ich ihnen mit scharfer Kralle an die Beine. Das war dann die Zeit, in der ich ein Mistvieh genannt wurde.
Das gab prompt viel Ärger mit meiner Gebieterin. Überhaupt hatte ich den allzu oft. Ob ich mich auf einen, mit Handtüchern abgedeckten, warmen Käsekuchen legte; ich einen gewagten Sprung auf den Küchenschrank vollführte, diesen zu kippen brachte und dabei eine Menge Geschirr zerbrach; an den Polstermöbeln meine Krallen wetzte oder ich im Revier überall meine Marken hinterließ, aller erregte Missfallen. Und es brachte mir stets viel Stress mit der Hüterin des Heimes ein. Die vielen schönen, verschmusten und kuschligen Zeiten in der Familie jedoch, oder aber die Stunden hinter dem warmen Ofen gaben mir einen vollen Ausgleich zu manch erbosten Geschimpfe.
So konnte ich sehr alt werden.
Doch eines Tages traf mich der Schlag. Mit einem Male war ich an den Hinterläufen gelähmt. Ich wusste sofort um die Stunde, die mir geschlagen hatte. Nun lag ich da, umsorgt von dem größer gewordenen Nachwuchs meiner Menschin und nahm den wohltuenden und zärtlichen Abschied der Herde dankend an. Doch die Hüterin war nicht da, wohl noch unterwegs, um für mich ein paar Besorgungen zu machen. Ich musste warten. Denn ohne Abschied von ihr wollte ich nicht gehen. Geduldig blieb ich, bis sie dann endlich zu mir kam. Nun machte ich es kurz, sammelte noch einmal alle Kräfte, bäumte mich auf und rief ihr mit meinem letzten Mauzer, ein herzliches Dankeschön und ein Lebewohl zu.
Dann trat ich friedlich über, in mein zweites Leben.
Hintergrund der Geschichte:
Autobiographisches Schreiben. Mein Haustier
Nachtrag: Am Tag nach dem Tod meiner Katze, sollte ich in der Berufsschule eine Chemieklausur zum Thema Redox-Gleichungen schreiben. Es war unmöglich. Auf dem leeren Blatt stand eine Woche später, die einzige „6“, die ich in meinem Leben (nicht)geschrieben habe. Im Nachhinein hatte der Lehrer Verstandnis für mein Blackout.
3,5 Seiten