Der Mann in Wüste

Einstmals unternahm ich eine Reise durch die Wüste im Heiligen Land. Ich war allein unterwegs, was nicht so ungewöhnlich war. Denn das Land ist klein und so sind die Wüsten darin auch nicht besonders groß. Ich war mit genügend Wasser und ausreichend Proviant für diese dreitägige Tour ausgestattet. Die erste Nacht hatte ich bereits in der Wüste verbracht und war am zweiten Tag schon eine Weile gegangen. Es drängte mich, für die Zeit der großen Mittagshitze, ein schattiges Lager zu finden. Ein viele Meter hoher Felsen verhieß mir ein solches kühles Plätzchen. Eine halbe Stunde etwa musste ich noch gehen, um das anvisierte Ziel zu erreichen.

Aber ich war nicht der Erste, der hier seinen Schutz vor der Sonne suchte. Ich traf dort auf einen Mann, der sich am Fuße des riesigen Felsen niedergelassen hatte. Sein ganzer Körper war ausgemergelt, seine Kleidung einfach, verschmutzt und zerschlissen. Er saß leicht erhöht auf einem Plateau. Mit gekreuzten Beinen und vorgebeugtem Oberkörper, schien er geistesabwesend in den Boden vor sich zu starren. Irgendwie sah er verzweifelt aus. Mehr noch, er sah so aus, als habe er große Furcht. Ich gesellte mich zu ihm, nahm ebenfalls auf dem Plateau Platz und sprach ihn an:

„Ich grüße dich Reisernder! Was ist mit dir? Ist dir ein Leid widerfahren?“

Er sah auf und blickte mich mit seinen tiefliegenden Augen ganz ruhig an:

„Ich grüße dich auch. Nein, mir ist nichts widerfahren. Ich habe mich hierher zurückgezogen um Klarheit zu finden. Klarheit über den Weg, den zu gehen mir auferlegt worden ist.“

Diese Antwort warf mehr Fragen auf, als sie die gestellte Frage beantwortete:

„Was ist das für ein Weg, den du gehen musst?“

„Es ist der Weg, den mir mein Vater vorgegeben hat. Meine Aufgabe wird alles von mir fordern.“

Wieder schien mir die Antwort sehr geheimnisvoll:

„Na, so schlimm wird es schon nicht werden.“

„Doch, diese Aufgabe wird wirklich alles von mir fordern.“

Erschrocken sah ich ihn an. Unsere Blicke trafen sich und mit einem Male war ich mir sicher, was er damit ausdrücken wollte: Er schien sich bewusst zu sein, alles geben zu müssen. Auch sein Leben.

„Aber dein Vater kann dir doch unmöglich einen solchen Auftrag erteilt haben. Er muss dich und dein Leben doch lieben.“

„Das tut er auch. So wie ich ihn liebe. Aber der Weg, den er mir vorgab, muss dennoch von mir gegangen werden.“

Ich war verwirrt. Noch bevor ich etwas antworten konnte ertönte es hinter mir mit sehr energischer Stimme:

„Unsinn, niemand kann einen solchen Weg von einem anderen Menschen verlangen!“

Ich fuhr herum. Von mir unbemerkt, hatte sich ein fürstlich gekleideter, stattlicher Mann genähert. Seine teuren, bunten Kleider hüllten seinen Körper fast vollständig ein. Man sah nur sein glattes wettergebräuntes Gesicht. Er verbeugte sich elegant vor uns:

„Ich grüße euch. Verzeiht mir, wenn ich mich so einfach einmische! Ich habe eben euer Gespräch mit angehört und ich glaube, dass du sehr wohl die Möglichkeit hast, deinen eigenen Weg zu gehen. Solltest du vergessen haben, dass dein Vater jeden anderen Menschen seinen eigenen Weg gewährt? Sollte er dann wirklich ausgerechnet seinen Sohn zwingen wollen, dorthin zu gehen, wohin dieser nicht gehen möchte? Nein, ich kann dies nicht glauben. Solltest du vielleicht etwas falsch verstanden haben? Er dir vielleicht doch einen ganz anderen Auftrag übergeben haben? Denke darüber nach, bevor du einen falschen Pfad einschlägst. Ich glaube jedoch, du bist einfach zu ausgezehrt, um eine richtige Sicht auf die Dinge zu bekommen. Vierzig Tage hast du nun schon gehungert. Du solltest etwas essen, um dich zu stärken. Dann kannst du dir sicherlich bessere Gedanken machen.“

Der einsame Mann breitete die Arme aus: „Ich habe keine Nahrung mitgebracht und verbringe meine Zeit mit fasten.“

„Aber, aber, ich kenne dich doch! Und auch deinen Vater. Du hast von ihm alle Macht bekommen. Siehe hier, dieser Stein. Du brauchst nur zu sagen,
er solle zu Brot werden, oder was dein Herz sonst begehren mag, dann wird es geschehen. Du wirst genügend zum Essen haben. Deine Gedanken werden sich klären. Dann wirst du sehen, dass es noch andere Wege für dich gibt. Ja, gerade solche, die du viel lieber gehen magst“

Das war eine Rede! So vernünftig. Mir wurde mit einem Mal leicht uns Herz. Dieser Fürst hatte einfach nur Recht, mit dem was er sagte. Sogleich wandte ich mich an den Ausgehungerten:

„Hörst du diese Worte. Der Mann hat Recht. Komm doch erst einmal wieder zu Kräften, dann sieht die Welt gleich anders aus. Ich kann auch nicht glauben, dass dein Vater wirklich jenes von dir verlangt, dass du glaubst, tun zu müssen. Ich würde dir gerne von meinem Proviant abgeben, doch er ist knapp bemessen. Wenn du es vermagst, so nimm doch diesen Stein und lass das Wunder geschehen. Iss ein Stück von dem Brot und du wirst leben.“

Der Mann schüttelte traurig den Kopf:

„Glaubt ihr wirklich, dass solches Brot mir mein Leben erhalten wird? Meint ihr, ich brauche nur etwas zu essen und alles wird gut? Es wird meinen Hunger für ein paar Stunden stillen. Dann verlangt es mich erneut nach Nahrung. Nein, ich sage euch, dass dies Brot allein mein Leben nicht erhalten wird. Leben, bei dem es mir nicht mehr hungert und dürstet, kann ich nur bei meinem Vater finden. Und dort kann ich nur bleiben, wenn ich auf jegliches Wort höre, welches er zu mir sagt und ich danach seinen Willen tue. Auch wenn ich dann dieses Leben geben muss.“

Der Fürst sprang ihm sofort erregt ins Wort:

„Es ehrt dich ja, wie du zu deinem Vater stehst. Gerne will ich glauben, dass du auf das hörst, was er dir zu sagen hatte. Aber hast du seinen Willen auch richtig verstanden? Sollte das wirklich der Weg, den er dir abverlangen will? Das kann doch offensichtlich nicht sein. Warum zögerst du, diesen Weg aufzugeben. Sollte es vielleicht so sein, dass du Angst hast, seine Liebe zu verlieren? Dann, wenn du diesen Weg verweigerst. Einen Weg, den er offensichtlich gar nicht gegangen wissen will? Solltest du wirklich glauben, seine Liebe verlieren zu können? Niemals wirst du sie verlieren!

Hat er nicht gesagt, er werde dir immer ein Schutz sein? Keinen Fuß sollst du dir anstoßen. So sehr liebt er dich! Solltest du dies vergessen haben? Ich sage dir: fordere es heraus. Steige auf diesen Felsen bis zur Spitze hinauf. Dann stürze dich herab. Er wird alle seine Engel senden um dich aufzufangen. Er wird dich nicht fallen lassen. So sehr liebt er dich! Und sicherlich auch dann, wenn du deine eigenen Wege gehen willst!“

Der Fürst war vor Erregung hin und her geeilt, als er seine Worte hinausschrie. Ich war bestürzt. In den Tod fallen sehen wollte ich diesen Mann bestimmt nicht. Aber mir schien, der Fürst hatte auch jetzt wieder irgendwie Recht. Dieser Mann hatte Angst davor, die Liebe seines Vaters zu verlieren. Deshalb glaubt er, diesen verrückten Weg gehen zu müssen. Aber wie kann man denn ernsthaft glauben, dass ein Vater einen solchen Weg fordern könnte? Wie jedoch kann man diesen armen, getriebenen Mann erkennen lassen, dass er falsch lag? Ist es nicht vernünftig, in diesem Falle die Liebe seines Vaters herauszufordern? Einzig, damit der Sohn seinen Frieden schließen kann. Es war ein verrückter Vorschlag, den der fremde Fürst geraten hatte. Aber nach ehrlichen Überlegungen musste ich ihm zustimmen:

„Wenn dies die einzige Möglichkeit ist, dich von der Liebe deines Vaters zu überzeugen, scheint es mir wirklich besser zu sein, diesen Felsen zu besteigen und ein Zeichen vom Vater zu erzwingen. Wenn er dich nicht liebt und dich fallen lässt, ist dein Weg sowieso zu Ende. Doch wenn er dich liebt und nicht zulässt, dass dir ein Leid geschieht, so weißt du doch, dass er dich am Leben sehen will. Dann kann er aber auch keinen solchen Weg von dir fordern, wie Du glaubst ihn gehen zu müssen. So gehe dann getrost zurück zu deinem Vater. Er wird sich deiner annehmen und dir alles aufklären.“

Der Angesprochene saß da und schwieg. Gerade als er zu einer Entgegnung ansetzen wollte, fiel ihm der Fürst ins Wort:

Du siehst, auch dieser Reisende ist meiner Meinung. Du musst etwas tun, um Klarheit zu erlangen. Ich werde dich jetzt hoch auf den Felsen geleiten. Dann wirst du eine Antwort von deinem Vater fordern.“

Schon trat der fremde Herrscher auf den ausgemergelten Mann zu und wollte ihn ergreifen um ihn zu führen. Doch dieser hob seine Hände und gebot ihm Einhalt:

„Mein Vater ist ein weiser Herrscher. Wann immer eine Antwort von Nöten ist, auch auf Fragen die noch nicht gestellt wurden, wird er sie geben. Aber eins ist sicher: Du darfst ihn niemals zu einer Antwort zwingen. Auch nicht dazu, irgendetwas zu tun, was nicht an der Zeit ist. Wenn ich mich von diesen Felsen stürzen würde, würde ich mich über ihn erheben. Denn ich würde bestimmen, was er zu tun hätte. Allein dieses wäre eine große Sünde ihm gegenüber. Es würde ihn aufs äußerste erbosen. Mein Vater weiß welch Antwort ich suche. Er wird sie mir zu dem Zeitpunkt geben, der genau der Richtige für mich ist.“

Irgendwie war ich recht froh über diese Antwort. Und dennoch waren wir noch immer nicht weitergekommen. Wie sollten wir diesem Mann, in all seinen Zweifel, auf den richtigen Weg helfen? Ich wusste keinen Rat. Doch der fremde Fürst gab noch nicht auf:

„Solltest du wirklich glauben, dein Vater verlangt diesen Weg von dir, den du nicht gehen möchtest, dann bleibt dir doch nur, dich von ihm loszusagen. Du willst doch leben! Ich mache dir ein großartiges Angebot: Ich werde an deines Vaters Stelle treten. Ich werde dich als meinen Sohn annehmen. Willst du dies, so verehre mich fortan, mit der gleichen Liebe, die du bisher deinen Vater gegeben hast. Ich will dir diese Liebe erwidern. Du sollst mein Sohn sein. Du sollst keinen Weg gehen müssen, der dich in deinen Tod führt. Nein! Sicher nicht!

Magst du mich als deinen Vater anerkennen, sollst du der Herrscher über alle Reiche dieser Welt sein. Du wirst deren König werden und nach eigenem Willen, all das tun können, was dir in den Sinn kommt. Ich werde dir nicht reinreden. Und du wirst ein sehr langes Leben haben, das du in allem erdenklichen Überfluss genießen kannst. Sage Vater zu mir, dann wird dies alles eintreffen.“

Mir blieb der Mund offen stehen. Was für ein Angebot. Damit wäre doch allen geholfen. In seinem Königreich wollte ich gerne Untertan sein. Bei diesem Mann war kein willkürliches Machtstreben oder besitzergreifender Hochmut zu erkennen. Er wird sicher ein sehr gerechter König sein. Begeistert drängte ich ihn dazu, das Angebot anzunehmen. Es würde ja das Leben für ihn bedeuten. Ein langes und erfülltes Leben. Sich von einem Vater loszusagen, der den Tod wünscht, ist doch wahrlich keine Sünde. So freute ich mich schon über diese Wendung und war bass erschrocken, als der Mann erwiderte:

„Fürst, ich kenne dich. Du bist ein Meister darin, den Menschen etwas einzuflüstern. Du kannst mich nicht von meinem Wege abbringen, der dir ein Dorn im Auge sein muss. Denn damit, dass ich diesen gehe, tilge ich das Unrecht, welches du den ersten Menschen angetan hast. Die Vehemenz, mit der du mich in die Irre führen möchtest, zeigt mir nur zu deutlich, wohin ich wirklich gehen muss. Du hast keine Macht über mich. Also verlasse mich nun!“

Das waren kräftig gesprochene Worte. Der gerade noch zu verhungern scheinende Mann war kraftvoll aufgesprungen. Nun stand er da und strahlte eine große Macht aus. Er sah nicht mehr hinfällig aus. Aus seinen Augen strahlte eine Entschlossenheit, die alle Angst vertrieben zu haben schien. Der fremde Fürst schaute ihn einen Augenblick sprachlos und erschrocken an. Dann schien er innerlich zusammenzusacken. Wortlos schlich er sich mit gesenktem Haupt davon. Verwundert sah ich diesen Mann an:

„Ich merke, du weißt jetzt wohin du gehen musst? Warum tust du das?“

„Ich tue es für dich!“

„Für mich?“

„Ja für dich! Und für alle anderen Menschen!“

„Für alle anderen Menschen? Aber, es wird dir doch niemand danken.“

„Ich werde diesen Weg dennoch gehen. Dafür bin ich in die Welt gekommen.“

Dies sagte er mit einer solchen Entschlossenheit, dass ich nichts mehr erwidern konnte. Das war auch nicht mehr möglich. Denn er hatte sich schon auf den Weg gemacht.

Mit dem kleinen Kind in der Krippe wurde die Hoffnung in die Welt hinein geboren. Das aus dieser Hoffnung große Freude wurde, verdanken wir der Entschlossenheit, mit der Jesus seinen vorherbestimmten Weg bis zum Ende gegangen ist. Die Hoffnung wurde erfüllt, mit dem Wunder der Auferstehung. Jesus hat uns Menschen mit Gott versöhnt. Zwischen Weihnachten und Ostern aber steht der Mann in der Wüste, der sich auch anders hätte entscheiden können. Dass er es nicht tat, gibt uns den Grund, Weihnachten mit großer Freude zu feiern.

Ich möchte an dieser Stelle noch Abbitte an jenem Manne leisten. Ich irrte mich, als ich sagte, es werde ihm keiner danken. Denn zumindest ich bin ihm aus allertiefsten Herzen dankbar.

 


Hintergrund der Geschichte: Eine Adventsandacht für meinen Bibelkreis. Da ich als gläubiger Christ dennoch nichts mit Weihnachten anfangen kann, habe ich meine Andacht auf das konzentriert, was ich für wichtiger als das kleine Kind in der Krippe halte.


6,5 Seiten