Isy

„Was ist Isy? Steh nicht rum, du hältst alles auf!“

Erschrocken fuhr ich zusammen, als mich mein Hintermann auf dieser Weise anrief. Mechanisch setzte ich meinen Weg fort. Immer dem Kameraden vor mir nachfolgend. Ich wunderte mich. Ich war tatsächlich stehen geblieben.

Aber warum war ich stehen geblieben? Einen Moment lang versuchte ich das Dunkel meiner Erinnerungen zu durchdringen. Dann erfasste ich den Zipfel eines Gedankens. Eine Erinnerung stellte sich mühsam ein: Es war ein plötzlicher Lichtstrahl, der mich blendete. Kein Strahl jedoch, von jenem Licht, welches gleichzeitig auch Wärme spendete. Mich hatte ein seltsamer, kalter Lichtreflex getroffen. So anders geartet, als wäre er nicht aus dieser Welt. Gleichzeitig vernahm ich die Witterung einer fremden Spur. Eine Witterung von einem Duft den ich nicht kannte. Ich war mir sicher: Dies war keine Markierung, gelegt von einem unserer Scouts. Auch nicht von den Scouts unserer feindlichen Nachbarn. Woher kam also dieser fremde Geruch? Gab es dort draußen etwa doch eine andere Welt?

Ich war an unserem Ernteplatz angekommen. Hohe buschige Pflanzen standen vor mir. Ich begab mich auf jene, die zurzeit unsere Erntepflanze war und suchte mir ein freies Blatt aus. Behände bestieg ich es bis zur Mitte und begann routiniert mit meiner Arbeit. Ich schnitt aus dem Blatt ein Segment heraus, indem ich mit meinen Kau- und Schneideorganen einen Bogen von der einen Seite des Blattes zur anderen fräste. Dabei hielt ich mit meinen Greifwerkzeugen den bereits abgetrennten Teil der Pflanze nach oben. Als ich die andere Seite des Blattes erreicht hatte, lag so die Ernte bereits optimal auf meinen Rücken und ich konnte mich direkt auf den Weg zurück in unseren Bau begeben.

Der Heimweg ging weniger geordnet zu. Da nun jeder mit seiner Last zu kämpfen hatte, konnte eine strenge Ordnung nur schwer eingehalten werden. Meine Last war dieses Mal nicht ganz so groß ausgefallen. Deshalb konnte sich der Gedanke, der schon verloren gegangen schien, erneut in meinen Kopf einhaken.

Was war das für eine andere Welt, zu der diese fremde Spur zu führen schien? Eigentlich war sie nur sehr schwach wahrnehmbar gewesen. War es vielleicht eine unserer alten Spuren? Eine, zu einem Pfad gehörend, den auch ich schon einmal beschritten hatte? Aber eigentlich kannte ich den Duft den unsere Kundschafter legten, auch wenn dieser schon fast verblasst war. Nein diese Spur musste einfach zu einer mir unbekannten Welt gehören.

Eine mir unbekannte Welt! Was würde mich dort wohl erwarten? Ich versuchte es mir vorzustellen. Aber ich konnte keinerlei Bilder einer anderen Lebenssphäre entwickeln. Ein großes Drängen überkam mich, diese andere Natur zu erkunden. Ich schüttelte diesen Gedanken ab. Was wollte ich denn in einer Welt, von der ich keine Vorstellung hatte und ich mir auch keine machen konnte. Von der ich nicht wusste, wie ich dort leben könnte? Ein neuer hoffnungsvoller Gedanke schoss mir durch meinem Kopf: Vielleicht war dort ja alles besser als hier? Doch sogleich verwarf ich diesen Gedanken wieder. Was soll denn dort besser sein? Was wünschte ich mir, dass es dort besser sein könnte? Ich fand keine Antworten auf diese Fragen. Antworten gab es nur dort, wo das Licht hergekommen war.

In der Zwischenzeit hatte ich unseren Bau erreicht. Ich durchquerte die mir wohlbekannten, geschickt angelegten Gänge meines Geheges. Der beständig, von allen Seiten durch die Röhren des Wohnkomplexes streichende Luftzug, machte mir das jonglieren der Ernte auf meinem Rücken schwer. Aber das war ich gewohnt. Bald erreichte ich, so manchen Seitenwind durch einen eleganten Schlenker ausgleichend, unsere Nahrungskammern. In ihnen wuchs unser Pilz der uns ernährte. Wir mussten ihn nur beständig mit diesen Blättern versorgen, die ihm zur Ernährung diente. In diesen Hallen herrschte ein reges Treiben. Spezialisierte Arbeiter umsorgten den Pilz, indem sie ihn durch fächelnde Bewegungen ihres Körpers frische Luft zuführten. Damit den Pilz auf eine für ihn angenehme Temperatur hielten. Andere Arbeiter sammelten den vom wuchtigen Gewächs abgesonderten Saft ein. Dieser diente uns als Nahrung. Sie verteilten ihn im ganzen Bau. Auch ich werde, nach dem Untergang des wärmespendenden Lichtes, wenn ich alle meine Arbeit für diesen Tag getan hatte, an meinem Schlafplatz ausreichend von dieser Nahrung vorfinden.

Aber noch war für heute die Ernte nicht vorbei. Deshalb machte ich sofort kehrt und ging ohne weiteres Verschnaufen zurück auf den mir wohlbekannten Pfad. Ich schloss mich einen vor mir laufenden Kameraden an, wie sich hinter mir unentwegt weiter Arbeiter in die nicht enden wollende Kette eingliederten.

Wieder drängten sich die grüblerischen Gedanken in meinen Kopf. Was wäre denn, wenn ich dieses Mal tatsächlich ausscheren würde? Wenn ich dieser schwachen, fremdartigen Spur folgte? Wie sehr würde sich mein Leben verändern? In mir entstand kein Bild, das mir eine Vorstellung geben könnte. Ich konnte es nur erfahren, wenn ich diesen Weg ginge. So reifte in mir der feste Entschluss: Ich werde dieser unbekannten Spur folgen! Ich möchte wissen was sie mir verspricht. Schon sah ich jene Stelle vor mir auftauchen, die mir so voller Verheißungen zu sein schien. Es waren nur noch wenige Augenblicke die mich von der Freiheit trennten. Ich erschrak: Was ist Freiheit? In mir entstand eine seltsame Leere, aus der keine Antwort kam. Tausend Fragen, keine Antworten. Um diese zu erhalten musste ich jetzt abbiegen. Denn ich hatte nun jene Stelle erreicht. Ganz leicht bekam ich die Witterung jener fremden Spur in meine Nase. Aber das wundersame Licht trat nicht in Erscheinung. Es gab einen kurzen Augenblick des Zögerns. Und ehe ich mich versah, folgte ich wie an einer Schnur gezogen, meinen Kameraden zur Ernte, um ein neues Blatt in den Bau zu bringen.

 


Hintergrund der Geschichte:

Stelle die Welt eines unbelebten oder einer niedrigen Lebensform da. Was sind ihre Gedanken.


2,5 Seiten